Verletzlichkeit in der Praxis – 3 Wege für authentische und wirksame Führung
- Christian

- 23. Okt.
- 6 Min. Lesezeit

Die Angst vor dem Kontrollverlust überwinden
Die größte Sorge, die Führungskräfte mir gegenüber äußern, wenn es um Verletzlichkeit geht, ist die Angst vor Kontroll- oder Autoritätsverlust. "Wie zeige ich Verletzlichkeit, ohne als entscheidungsschwach oder inkompetent wahrgenommen zu werden?"
Diese Angst ist verständlich, aber sie basiert auf einem Missverständnis. Die Antwort liegt in der strategischen, professionellen Verletzlichkeit. Es geht nicht darum, im Büro persönliche Krisen auszubreiten oder jede Unsicherheit ungefiltert zu teilen. Es geht um kontextbezogene Offenheit, die Vertrauen und Zusammenarbeit fördert.
In diesem Teil zeige ich dir drei konkrete, im Führungsalltag sofort umsetzbare Techniken, die deine Selbstwirksamkeit stärken und dich zu einer Führungskraft machen, der Menschen folgen, weil sie wollen, nicht weil sie müssen.
Technik 1: Die "To-Be-Liste" – Intention vor Aktion
Die erste Technik stammt aus einer aktuellen McKinsey-Studie und hat sich in meiner Beratungspraxis als transformativ erwiesen: Führe eine "To-Be-Liste" ein.
Anstatt den Tag nur mit Aufgaben zu füllen, fragst du dich jeden Morgen: "Wer möchte ich heute sein?" Diese Praxis schärft die Intention und macht verletzliches Verhalten zu einer bewussten Entscheidung.
Beispiele für To-Be-Intentionen:
"Ich möchte heute präsenter in Gesprächen sein"
"Ich möchte heute mutig eine unangenehme Wahrheit ansprechen"
"Ich möchte heute neugieriger fragen, anstatt vorschnell zu urteilen"
"Ich möchte heute Empathie zeigen, auch wenn ich unter Druck stehe"
"Ich möchte heute Raum für andere Perspektiven schaffen"
Warum diese Technik so kraftvoll ist:
Erstens schafft sie Klarheit über deine Werte und Prioritäten. Wenn du dir bewusst machst, wer du sein möchtest, triffst du automatisch bessere Entscheidungen darüber, wie du dich verhältst.
Zweitens reduziert sie die Angst vor Verletzlichkeit. Wenn verletzliches Verhalten eine bewusste Wahl ist, fühlst du dich weniger ausgeliefert und mehr in Kontrolle.
Drittens signalisiert sie deinem Team Authentizität. Menschen spüren, wenn Verhalten echt ist oder gespielt. Eine bewusste Intention zur Menschlichkeit wirkt echter als perfekte Fassaden.
Praktische Umsetzung:
Nimm dir jeden Morgen zwei Minuten Zeit – vor dem ersten Meeting, vor dem ersten E-Mail-Check. Schreibe drei "Ich möchte heute sein..."-Sätze auf. Abends reflektierst du: Wo ist es dir gelungen? Wo warst du noch in alten Mustern gefangen?
Ein Geschäftsführer aus meinem Coaching berichtete nach vier Wochen: "Diese einfache Praxis hat meine gesamte Führung verändert. Ich bin viel bewusster in meinen Reaktionen und mein Team spricht mich darauf an, dass ich 'echter' geworden bin."
Technik 2: Neugier als Führungsinstrument – Die Kraft des Nichtwissens
In komplexen Umgebungen ist der Anspruch, alle Antworten zu haben, nicht nur eine Illusion, sondern ein Hindernis für echte Innovation und Zusammenarbeit. Die zweite Technik lautet: Tausche den Druck der Allwissenheit gegen die Kraft der Neugier.
Kraftvolle Formulierungen für den Führungsalltag:
Statt: "Das machen wir so, weil..."
Sage: "Das ist ein wichtiger Punkt. Wie seht ihr das? Was sind eure Erfahrungen damit?"
Statt: "Die Lösung ist offensichtlich..."
Sage: "Ich habe eine Idee dazu, aber ich möchte zuerst eure Perspektive hören."
Statt: "Das haben wir schon immer so gemacht..."
Sage: "Vielleicht gibt es einen besseren Weg. Was würdet ihr anders machen?"
Statt: "Ich weiß, was das Problem ist..."
Sage: "Helft mir zu verstehen: Was sind die Kernherausforderungen, die ihr seht?"
Die Neurowissenschaft der Neugier:
Wenn du als Führungskraft Neugier zeigst, passieren zwei wichtige Dinge im Gehirn deines Teams:
Psychologische Sicherheit steigt: Menschen fühlen sich eingeladen, ihre Expertise zu teilen
Kreativität wird aktiviert: Das Gehirn wechselt vom Verteidigungsmodus in den Entdeckungsmodus
Praxisbeispiel aus meiner Beratung:
Eine Abteilungsleiterin in einem Energieunternehmen stand vor der Herausforderung, ein stagnierendes Projekt zu retten. Statt Lösungen zu diktieren, rief sie ihr Team zusammen und sagte:
"Ich stehe vor einem Rätsel. Dieses Projekt läuft nicht so, wie wir es uns vorgestellt haben. Ihr seid näher dran als ich. Was seht ihr, was ich möglicherweise übersehe? Wo sind die Hindernisse, die ich nicht sehe?"
Das Ergebnis: Innerhalb von 90 Minuten identifizierte das Team drei kritische Probleme, die der Führungskraft nicht bewusst waren, und entwickelte konkrete Lösungsansätze. Noch wichtiger: Das Team fühlte sich gehört und wertgeschätzt.
Die Grenzen der Neugier:
Neugier als Führungsinstrument bedeutet nicht, dass du keine Meinungen haben oder keine Entscheidungen treffen darfst. Es bedeutet, dass du diese Meinungen und Entscheidungen durch die kollektive Intelligenz deines Teams bereicherst.
Die Balance liegt darin, neugierig zu sein, wenn es um Problemanalyse und Lösungsfindung geht, aber klar und entschieden zu sein, wenn es um die finale Entscheidung und Umsetzung geht.
Technik 3: Feedback als verletzlicher Dialog – Die Kunst des Gebens und Nehmens
Feedback ist einer der verletzlichsten Prozesse in der Führung – sowohl für den Gebenden als auch für den Empfangenden. Die dritte Technik verwandelt Feedback von einem hierarchischen Instrument in einen verletzlichen Dialog, der Vertrauen aufbaut und Wachstum fördert.
Feedback geben mit Verletzlichkeit:
Traditionelles Feedback folgt oft dem Muster: "Du solltest... Du musst... Du hast nicht..."
Diese Sprache schafft Distanz und Widerstand. Verletzliches Feedback hingegen nutzt "Ich"-Botschaften und zeigt die eigene emotionale Exposition:
Statt: "Du kommunizierst nicht klar genug."
Sage: "Mir fällt auf, dass ich nach unseren Gesprächen oft unsicher bin, ob wir das Gleiche verstehen. Können wir schauen, wie wir das verbessern können?"
Statt: "Du bist zu defensiv."
Sage: "Ich merke, dass ich zögere, dir schwierige Themen anzusprechen, weil ich befürchte, dass es zu Spannungen führt. Wie können wir einen Raum schaffen, in dem wir offen sprechen können?"
Feedback empfangen mit Verletzlichkeit:
Noch wichtiger ist, wie du als Führungskraft Feedback empfängst. Hier kannst du Verletzlichkeit vorleben und damit die Feedbackkultur in deinem Team transformieren.
Kraftvolle Reaktionen auf kritisches Feedback:
"Danke, dass du mir das so offen sagst. Das ist nicht leicht zu hören, aber wichtig für mich."
"Ich merke, dass ich gerade defensiv werden möchte. Lass mich einen Moment darüber nachdenken."
"Du hast einen wichtigen Punkt gemacht. Ich brauche Zeit, das zu durchdenken. Können wir morgen noch einmal darüber sprechen?"
"Ich sehe das anders, aber ich möchte verstehen, wie du zu dieser Einschätzung kommst."
Die transformative Kraft des verletzlichen Feedbacks:
Ein Beispiel aus meiner Praxis: Ein Bereichsleiter erhielt von seinen Leitungskräften das Feedback, dass er in Meetings zu dominant sei und andere nicht zu Wort kommen lasse. Seine erste Reaktion war Verteidigung. Dann besann er sich und sagte:
"Das tut weh zu hören, aber ich merke, dass ihr recht habt. Ich bin so fokussiert darauf, Ergebnisse zu erzielen, dass ich vergesse, Raum für eure Beiträge zu schaffen. Könnt ihr mir helfen, das zu ändern? Gebt mir ein Signal, wenn ich wieder zu viel rede."
Diese Verletzlichkeit veränderte die gesamte Teamdynamik. Die Meetings wurden lebendiger, kreativer und produktiver. Und der Teamleiter gewann an Autorität, weil er zeigte, dass er lernfähig und menschlich ist.
Strukturierter Ansatz für verletzliches Feedback:
Vorbereitung: Reflektiere deine eigene emotionale Verfassung und Intention
Kontext schaffen: Erkläre, warum das Gespräch wichtig ist
Verletzlichkeit zeigen: Teile deine eigenen Gefühle und Unsicherheiten mit
Gemeinsam erkunden: Lade zur gemeinsamen Problemlösung ein
Vereinbarungen treffen: Definiert konkrete nächste Schritte
Follow-up: Überprüft gemeinsam den Fortschritt
Die Integration aller drei Techniken
Diese drei Techniken wirken am besten im Zusammenspiel:
Morgens setzt du deine Intention mit der To-Be-Liste.
Tagsüber praktizierst du Neugier statt Allwissenheit.
Regelmäßig nutzt du Feedback als Instrument für verletzlichen Dialog.
Ein typischer Tag mit verletzlicher Führung:
9:00 Uhr - Morgenreflexion: "Ich möchte heute neugieriger sein und mehr Fragen stellen, bevor ich Antworten gebe."
10:30 Uhr - Teammeeting: "Bevor ich meine Gedanken zu diesem Problem teile, möchte ich eure Perspektiven hören. Was seht ihr als die größten Herausforderungen?"
14:00 Uhr - Mitarbeitergespräch: "Mir ist aufgefallen, dass unsere Kommunikation manchmal aneinander vorbeigeht. Wie erlebst du das? Was können wir beide besser machen?"
18:00 Uhr - Abendreflexion: "Wo bin ich heute meiner Intention gefolgt? Wo bin ich in alte Muster zurückgefallen?"
Die Auswirkungen auf deine Führungswirkung
Diese kleinen, bewussten Verschiebungen im Verhalten untergraben nicht deine Autorität. Im Gegenteil: Sie bauen eine viel stabilere, auf Vertrauen und Respekt basierende Form der Autorität auf.
Führungskräfte, die diese Techniken anwenden, berichten:
Höheres Mitarbeiterengagement und Zugehörigkeit
Bessere Problemlösungsqualität durch kollektive Intelligenz
Reduzierte Konflikte und verbesserte Zusammenarbeit
Stärkere Resilienz in Veränderungsprozessen
Erhöhte Innovation und Kreativität
Verbesserte Mitarbeiterbindung von Schlüsselpersonen
Häufige Stolpersteine und wie du sie vermeidest
Stolperstein 1: Zu viel, zu schnell
Beginne mit einer Technik und etabliere sie, bevor du die nächste hinzufügst.
Stolperstein 2: Unpassender Kontext
Nicht jede Situation erfordert Verletzlichkeit. In Krisen brauchst du manchmal klare Anweisungen.
Stolperstein 3: Fehlende Authentizität
Verletzlichkeit kann nicht gespielt werden. Sie muss echt sein, sonst wirkt sie manipulativ.
Stolperstein 4: Keine Grenzen
Professionelle Verletzlichkeit hat Grenzen. Private Probleme gehören nicht ins Büro.
Dein Kompass für verletzliche Führung
Am Ende geht es nicht darum, perfekt zu sein, sondern echt zu sein. Es geht nicht darum, alle Antworten zu haben, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Es geht nicht darum, unverwundbar zu erscheinen, sondern menschlich zu führen.
Im letzten Teil unserer Serie werden wir den Blick in die Zukunft richten: Warum verletzliche Führung in der VUCA-Welt nicht nur hilfreich, sondern überlebenswichtig ist, und wie du diese Fähigkeiten zu deinem strategischen Vorteil machst.
Denn die Zukunft gehört nicht den Unfehlbaren, sondern den Lernenden. Den Führungskräften, die den Mut haben, ihre Rüstung abzulegen und sich als Mensch zu zeigen.


