Von "Mitnehmen" zu "Einladen": Die Psychologie erfolgreicher Veränderungsprozesse
- Christian

- 6. Aug.
- 7 Min. Lesezeit

"Du musst die Mitarbeiter mitnehmen!" – Wie oft haben Führungskräfte diesen Satz gehört, wenn es um Veränderungsprojekte geht. Auf den ersten Blick klingt er vernünftig und gut gemeint. Doch bei genauerer Betrachtung offenbart diese scheinbar harmlose Formulierung ein fundamentales Missverständnis über die Natur menschlicher Motivation und die Psychologie des Wandels.
Trotz der positiven Absicht steckt in diesen wenigen Worten ein enormer Druck für Führungskräfte. Sie ignorieren eine wichtige Realität: Das Ziel, Mitarbeiter "mitzunehmen", liegt nur teilweise im Einflussbereich der Führungskraft. Diese Erkenntnis wird durch aktuelle psychologische Forschung eindrucksvoll bestätigt.
Die psychologischen Wurzeln des Widerstands
Um zu verstehen, warum die "Mitnehmen"-Mentalität problematisch ist, müssen wir zunächst die tieferliegenden psychologischen Mechanismen betrachten, die Widerstand gegen Veränderungen auslösen. Die Forschung zeigt, dass Widerstand gegen organisatorische Veränderungen "negative Einstellungen und Verhaltensweisen widerspiegelt, die von Mitarbeitern während Zeiten organisatorischer Veränderungen ausgedrückt werden" [1].
Einer der stärksten psychologischen Faktoren ist die natürliche menschliche Tendenz, Veränderungen zu widerstehen [2]. Diese Resistenz ist nicht böswillig oder destruktiv gemeint, sondern entspringt tief verwurzelten Schutzmechanismen. Psychologen haben fünf Hauptgründe für diese Widerstandshaltung identifiziert:
Angst vor dem Unbekannten steht an erster Stelle. Veränderung bringt Unsicherheit mit sich, und Menschen neigen dazu, sich vor Veränderungen zu scheuen, weil sie ängstlich bezüglich der möglichen Ergebnisse sind [2]. Diese Angst ist evolutionär bedingt – unser Gehirn ist darauf programmiert, Bekanntes als sicher und Unbekanntes als potentiell gefährlich zu bewerten.
Die "moralische Kraft" beschreibt das Phänomen, dass Menschen so sehr in ihren Routinen gefangen werden, dass sie Veränderungen widerstehen, weil sie wirklich glauben, dass der Status quo das Beste ist [2]. Wie der Psychologe Howard S. Friedman es ausdrückte: "Der alte Weg ist der beste Weg. Der alte Weg ist der richtige Weg!" Was vertraut und bequem ist, wird als "moralisch korrekt" empfunden.
Angst vor dem Scheitern ist ein weiterer zentraler Faktor. Die Befürchtung, dass jede Veränderung zu Versagen oder sogar Katastrophe führen könnte, lähmt die Bereitschaft zur Veränderung [2]. Diese Angst ist oft irrational, aber psychologisch sehr real und wirksam.
Apathie spielt ebenfalls eine Rolle. Manchmal widerstehen Menschen Veränderungen einfach, weil Veränderung Anstrengung erfordert – neue Verfahren zu lernen oder sich anzupassen kostet Arbeit [2]. Selbst wenn das Ergebnis der Veränderung wünschenswert sein könnte, sagen Menschen oft: "Es ist die Mühe nicht wert!"
Schließlich führt mangelndes Vertrauen in die Treiber der Veränderung zu Widerstand. Menschen können Veränderungen widerstehen, weil sie den Befürwortern der Veränderung misstrauen oder deren Kompetenz anzweifeln [2].
Das Phänomen der Pseudo-Argumente
Ein besonders frustrierender Aspekt im Change Management ist das Auftreten von Pseudo-Argumenten. Diese entstehen, wenn die wahren, oft unbewussten Gründe für Widerstand nicht direkt angesprochen werden können oder dürfen. Stattdessen werden rationale Begründungen vorgeschoben, die bei genauerer Betrachtung nicht stichhaltig sind.
Das Tückische an Pseudo-Argumenten ist ihre Hartnäckigkeit: Sind sie einmal ausgeräumt, werden sie sofort durch neue ersetzt. Dies geschieht, weil die eigentlichen emotionalen und psychologischen Blockaden unberührt bleiben.
Menschen begeben sich nicht bewusst in den Widerstand, um zu schaden, sondern um sich selbst zu schützen. Oft geschieht dies nicht einmal bewusst, weshalb rationale Diskussionen über oberflächliche Einwände ins Leere laufen. Die wahren Ängste – vor Kontrollverlust, vor dem Verlust von Kompetenz oder Zugehörigkeit – bleiben unausgesprochen und unbearbeitet.
Die Grenzen der "Mitnehmen"-Mentalität
Die Formulierung "Mitarbeiter mitnehmen" geht von einer irrigen Annahme aus: Sie suggeriert, dass es allein in der Macht der Führungskraft liegt, Veränderungen erfolgreich zu implementieren – wenn sie es nur richtig anstellt. Diese Denkweise ist nicht nur unrealistisch, sondern auch kontraproduktiv.
Natürlich können Führungskräfte strategisch kommunizieren, ihre Sprache an die Adressaten anpassen und an ihrer eigenen Energie arbeiten – getreu dem Motto: "Wer andere anzünden will, muss selbst brennen." Doch was geschieht, wenn all diese Bemühungen unternommen werden und einzelne Teammitglieder dennoch nicht folgen? Die "Mitnehmen"-Mentalität lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Die Führungskraft hat versagt.
Gleichzeitig entlässt diese Formulierung die Mitarbeitenden aus ihrer Eigenverantwortung. Wer nicht "richtig" mitgenommen wurde, kann ja auch nicht folgen. Diese Dynamik schafft eine ungesunde Abhängigkeitsbeziehung und verhindert die Entwicklung echter Eigenverantwortung und intrinsischer Motivation.
Die Wissenschaft der Selbstbestimmung
Hier kommt die Selbstbestimmungstheorie (Self-Determination Theory, SDT) ins Spiel, die einen wissenschaftlich fundierten Ausweg aus diesem Dilemma bietet. Die SDT besagt, dass drei psychologische Grundbedürfnisse erfüllt werden müssen, um Mitarbeiter angemessen zu motivieren: Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit [4].
Autonomie ist dabei von zentraler Bedeutung. Die Forschung zeigt, dass Autonomie-Unterstützung durch drei Elemente erreicht wird: die Bereitstellung einer Begründung für Veränderungen, das Anbieten von Wahlmöglichkeiten bei der Umsetzung und die Anerkennung von Gefühlen bezüglich der Aufgabe [4].
Wenn Menschen zu etwas gedrängt werden ohne klare Begründung und ohne Wahlmöglichkeiten, werden sie weniger interessiert und zeigen schlechtere Leistung. Umgekehrt werden Menschen mehr engagiert, wenn sie Gründe verstehen und Wahlmöglichkeiten haben. Diese Erkenntnisse stehen in direktem Widerspruch zur "Mitnehmen"-Mentalität, die implizit von einer passiven Rolle der Mitarbeitenden ausgeht.
Die Alternative: Einladung zur gemeinsamen Gestaltung
Anstatt Mitarbeiter "mitzunehmen", bietet sich eine psychologisch wirksamere Alternative an: die Einladung zur gemeinsamen Gestaltung des Veränderungsprozesses. Dieser scheinbar kleine Unterschied in der Formulierung führt zu einer völlig anderen Dynamik und Haltung im gesamten System.
Die psychologischen Vorteile der Einladung
Eine Einladung zur Gestaltung spricht direkt die drei Grundbedürfnisse der Selbstbestimmungstheorie an:
Autonomie wird respektiert: Statt Menschen zu etwas zu drängen, wird ihre Entscheidungsfreiheit anerkannt. Die Botschaft lautet: "Ich zeige klar, dass ich diesen Weg gehen werde, und es ist eure bewusste Entscheidung, mich zu begleiten – oder eben nicht." Diese Haltung eliminiert den Druck und schafft Raum für authentische Entscheidungen.
Kompetenz wird gefördert: Indem Mitarbeitende eingeladen werden, den Prozess mitzugestalten, wird ihre Expertise und ihr Beitrag wertgeschätzt. Sie werden von passiven Empfängern zu aktiven Gestaltern, was ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit stärkt.
Verbundenheit entsteht: Gemeinsame Gestaltung schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit und des gemeinsamen Zwecks. Statt einer hierarchischen "Oben-Unten"-Dynamik entsteht eine partnerschaftliche "Wir"-Beziehung.
Von Betroffenen zu Beteiligten
Die Einladung zur Gestaltung transformiert die Rolle der Mitarbeitenden fundamental. Aus Betroffenen werden Beteiligte, aus potentiellen Opfern der Veränderung werden Mitgestalter. Diese Transformation hat weitreichende psychologische Auswirkungen:
Intrinsische Motivation entsteht: Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie eine echte Wahl haben und ihre Stimme gehört wird, entwickeln sie intrinsische Motivation für den Veränderungsprozess. Diese ist nachhaltiger und kraftvoller als jede Form der externen Motivation oder des Drucks.
Widerstand wird zu konstruktiver Kritik: Statt Widerstand zu unterdrücken oder zu überwinden, wird er als wertvoller Input für die Gestaltung des Prozesses betrachtet. Kritische Stimmen werden nicht als Störfaktoren, sondern als wichtige Perspektiven wahrgenommen.
Eigenverantwortung entwickelt sich: Wenn Menschen an der Gestaltung beteiligt sind, übernehmen sie automatisch mehr Verantwortung für den Erfolg. Sie werden zu Miteignern des Prozesses, nicht nur zu Ausführenden.
Praktische Umsetzung der Einladung
Die Umsetzung dieser Haltung erfordert konkrete Veränderungen in der Kommunikation und im Vorgehen:
Transparente Kommunikation: Statt Veränderungen zu verkünden, werden sie erklärt. Die Gründe, Ziele und auch Unsicherheiten werden offen kommuniziert. Diese Transparenz schafft Vertrauen und ermöglicht informierte Entscheidungen.
Echte Partizipation: Mitarbeitende werden nicht nur informiert, sondern aktiv in die Planung und Umsetzung einbezogen. Ihre Ideen und Bedenken fließen in die Gestaltung des Prozesses ein.
Wahlmöglichkeiten schaffen: Wo immer möglich, werden verschiedene Wege zur Zielerreichung aufgezeigt. Menschen können wählen, wie sie ihren Beitrag leisten möchten.
Emotionale Anerkennung: Ängste, Bedenken und Widerstand werden nicht als irrationale Hindernisse abgetan, sondern als verständliche menschliche Reaktionen anerkannt und respektiert.
Die systemischen Auswirkungen
Der Wechsel von "Mitnehmen" zu "Einladen" verändert nicht nur die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden, sondern hat Auswirkungen auf das gesamte organisationale System.
Eine Einladungskultur fördert psychologische Sicherheit – ein Zustand, in dem sich Menschen sicher fühlen, Risiken einzugehen, Fehler zu machen und ihre Meinung zu äußern. Diese psychologische Sicherheit ist ein entscheidender Faktor für Innovation und Anpassungsfähigkeit in Organisationen.
Gleichzeitig entsteht eine Kultur des Lernens statt einer Kultur der Schuldzuweisung. Wenn Veränderungen als gemeinsame Experimente betrachtet werden, werden Rückschläge zu Lernmöglichkeiten statt zu Versagen.
Nachhaltige Veränderung
Veränderungen, die auf Einladung und gemeinsamer Gestaltung basieren, sind nachhaltiger als solche, die durch Druck oder Manipulation erreicht werden. Die Forschung zeigt, dass "Mitarbeiter mit psychologischem Empowerment weniger Widerstand gegen Veränderungen zeigen" [5]. Empowerment entsteht aber nur durch echte Beteiligung, nicht durch geschickte Überredung.
Resiliente Organisationen
Organisationen, die ihre Mitarbeitenden als Partner in Veränderungsprozessen betrachten, entwickeln eine höhere Anpassungsfähigkeit. Sie können schneller auf neue Herausforderungen reagieren, weil sie auf die kollektive Intelligenz und Kreativität aller Beteiligten zugreifen können.
Herausforderungen und Grenzen
Die Einladung zur Gestaltung ist kein Allheilmittel und bringt eigene Herausforderungen mit sich:
Zeitaufwand: Partizipative Prozesse dauern länger als Top-Down-Entscheidungen. Dieser Zeitaufwand ist jedoch oft eine Investition, die sich durch bessere Umsetzung und geringeren Widerstand auszahlt.
Komplexität: Je mehr Menschen beteiligt sind, desto komplexer wird der Prozess. Führungskräfte müssen lernen, mit dieser Komplexität umzugehen und sie zu moderieren.
Grenzen der Partizipation: Nicht alle Entscheidungen können partizipativ getroffen werden. Führungskräfte müssen klar kommunizieren, wo Mitgestaltung möglich ist und wo nicht.
Kompetenz der Führungskraft: Die Moderation partizipativer Prozesse erfordert andere Fähigkeiten als direktive Führung. Führungskräfte müssen diese Kompetenzen entwickeln.
Fazit: Ein Paradigmenwechsel in der Führung
Der Wechsel von "Mitarbeiter mitnehmen" zu "zur Gestaltung einladen" ist mehr als eine sprachliche Nuance – es ist ein fundamentaler Paradigmenwechsel in der Art, wie wir über Führung und Veränderung denken.
Dieser Ansatz erkennt an, dass Menschen nicht passive Objekte sind, die bewegt werden müssen, sondern aktive Subjekte mit eigenen Bedürfnissen, Ängsten und Kompetenzen. Er respektiert die menschliche Autonomie und nutzt sie als Kraftquelle für Veränderung statt als Hindernis.
Die psychologische Forschung bestätigt eindeutig: Menschen sind motivierter, kreativer und engagierter, wenn sie sich als Mitgestalter statt als Betroffene erleben. Organisationen, die diesen Paradigmenwechsel vollziehen, werden nicht nur erfolgreicher in der Umsetzung von Veränderungen sein, sondern auch widerstandsfähiger und innovativer.
Die Frage ist nicht, ob wir unsere Mitarbeitenden "mitnehmen" können, sondern ob wir bereit sind, sie als Partner auf dem Weg in die Zukunft zu begrüßen. Die Antwort auf diese Frage wird darüber entscheiden, ob Veränderungsprozesse zu kraftvollen Transformationen oder zu zermürbenden Kämpfen werden.
In einer Zeit, in der Veränderung die einzige Konstante ist, können wir es uns nicht leisten, auf die Kraft und Kreativität unserer Mitarbeitenden zu verzichten. Die Einladung zur gemeinsamen Gestaltung ist der Schlüssel, um diese Kraft zu entfesseln und nachhaltige, positive Veränderungen zu schaffen.
Referenzen
[1] Rehman, N., Mahmood, A., Ibtasam, M., Murtaza, S. A., Iqbal, N., & Molnár, E. (2021). The Psychology of Resistance to Change: The Antidotal Effect of Organizational Justice, Support and Leader-Member Exchange. Frontiers in Psychology, 12, 678952. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8365138/
[2] Riggio, R. E. (2024). Why Are People So Resistant to Change? Five reasons why people avoid change and even work against their best interests. Psychology Today. https://www.psychologytoday.com/us/blog/cutting-edge-leadership/202408/why-are-people-so-resistant-to-change
[3] Diamond, M. A. (2008). Telling them what they know: Organizational change, defensive resistance, and the unthought known. The Journal of Applied Behavioral Science, 44(3), 348-364.
[4] Gagné, M., Koestner, R., & Zuckerman, M. (2000). Facilitating acceptance of organizational change: The importance of self-determination. Journal of Applied Social Psychology, 30(9), 1843-1852. https://selfdeterminationtheory.org/SDT/documents/2000_GagneKoestnerZuckerman_JASP.pdf
[5] Goksoy, A. (2017). The role of psychological empowerment and organizational citizenship behaviors on employee resistance to change. European Journal of Interdisciplinary Studies, 3(2), 83-92.


